GESCHICHTE



- SCHWEIZER FIEDELMUSIK -

Eine verschollene Tradition wiederentdeckt


Die Schweizer Volksmusik ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Dazu viel beigetragen hat die Wiederentdeckung unserer Volksmusik des 19. Jahrhunderts. Bis vor kurzem setzte man Schweizer Volksmusik mehr oder weniger mit der sogenanten «Ländlermusik» gleich, und man war sich kaum bewusst, dass diese nur einen von vielen Aspekten unserer traditionellen Musik darstellt. Die Ländlermusik entwickelte sich als Stil anfangs 20. Jahrhundert und ist demnach relativ jung. Was vorher bei uns gespielt wurde, blieb lange im Dunkeln.

Völlig verändert hat dieses Bewusstsein für unsere Musiktradition die Veröffentlichung der Hanny Christen-Sammlung. Hanny Christen, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts über 12‘000 Melodien handschriftlich zusammentrug und dazu unzählige Schriften zu allen Bereichen der Volkskultur und viele Stunden Feldaufnahmen hinterliess, hat dadurch einen unschätzbaren Fundus bewahrt; einen kulturellen Schatz, der beinahe in Vergessenheit geriet, nun jedoch zum Grundlagenwerk der Schweizer Volksmusik geworden ist.


Seit der Herausgabe der Notensammlung im Frühling 2002 ist das Interesse für die alte Schweizer Volksmusik geweckt. Und im Zuge dieses Interesses kommen immer mehr alte Manuskripte zum Vorschein, wie beispielsweise die Sammlung «Altfrentch» mit Appenzeller Musik aus dem 18. Jahrhundert, die Sammlung von Peter Davoli aus Samedan (1895) oder das Notenbuch des Innerschweizers Anton Stadelmann von 1824 (nähere Angaben s. unten).

Trotz dem frischen Wind und der veränderten Wahrnehmung unserer traditionellen Musik stehen wir in der Schweiz erst am Anfang einer Entwicklung, die in anderen Ländern bereits in den 70er-Jahren eingesetzt hat. «Back to the roots» war das Motto der Folk-Bewegung damals, und viele Länder haben ihre ursprüngliche Volksmusik entdeckt und wieder zum Leben erweckt. Die damalige Folkbewegung der Schweiz interessierte sich für fast alles, nur nicht für die eigene Tradition – abgesehen von wenigen Ausnahmen.

Ein vergessener Aspekt unserer Volksmusik des 19. Jahrhunderts ist beispielsweise die Verwendung der Geige. Auf den 250 Fotos von Tanzmusikformationen, die Hanny Christen gesammelt hat, sieht man, wie gross die Verbreitung der Geige als Tanzmusikinstrument einmal war. Im Safiental gab es sogar eine Geigenschule mit richtigen Grossformationen, die an die Fiedlergruppen in Skandinavien erinnern. Viele der Instrumente wurden im Winter von den Bauern selbst angefertigt. Zu den Geigen gesellte sich als Begleitinstrument ein selbstgebautes Bassett (etwas zwischen Violoncello und Kontrabass).

Doch wie haben diese Fiedler gespielt? Bis vor kurzem konnte man das nur erahnen. Die Feldaufnahmen von Hanny Christen, die sie ab Mitte der 50er-Jahre an verschiedenen Orten machte, geben nun einen sensationellen und authentischen Einblick in deren Spielweise. Sie machte diese Aufnahmen in den Stuben der wenigen Fiedelmusikanten, die diese alte Tradition noch pflegten, wie zum Beispiel Hans und Adolf Kreuzer aus dem Goms im Wallis oder Tumasch Dolf in Zillis im Kanton Graubünden. Von beiden sind Originalaufnahmen sowie neu eingespielte Stücke auf dieser CD zu hören.
Die Spielweise dieser alten Musikanten unterscheidet sich stark von dem Spiel- und Klangideal, das die wenigen heutigen Volksmusikgeiger hierzulande pflegen, weil diese sich vornehmlich am „klassischen“ Klangideal orientieren. Dies sicher auch, weil man heute ein Streichinstrument an der Musikschule lernt, unterrichtet von einer klassisch ausgebildeten Fachperson. Im Gegensatz dazu erfolgte der Unterricht früher durch die ältere Musikantengeneration oder gar autodidaktisch, womit ein gewisser Personalstil fast notgedrungen die Folge war. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hielten Aspekte aus der „klassischen“ Praxis, wie etwa der angestrebte „Schönklang“ oder eine für Volksmusik unübliche und untypische (man könnte auch sagen harmlose) Notentreue, Einzug in unsere Volksmusik. Die Praxis der Variation, die die Volksmusik eigentlich charakterisiert, sowie Verzierung und Improvisation sind fast gänzlich „eingefroren“. Das Spiel der alten Schweizer Fiedler klingt anders und erinnert an die ungebrochenen Fiedeltraditionen anderer Länder. Da werden zur Melodie oft leere Saiten angestrichen oder Doppelgriffe verwendet, um auch alleine als Tanzmusikant „orchestral“ zu klingen. Der Takt wird heftig mit den Füssen geklopft und der Rhythmus („groove“) steht klar im Vordergrund. Auf Wohlklang wird weniger Rücksicht genommen. Es geht eben darum, die Zuhörer nicht zum Träumen, sondern zum Tanzen zu verleiten.

Auch das Violoncello hat in verschiedenen Formen und Abwandlungen in der Schweiz als Begleitinstrument eine Rolle gespielt. Als Bassinstrument oder Bassett wurde es,  - in der Form oft etwas umgewandelt (z.B. nur drei Saiten, ein etwas grösserer Korpus, etc.) - vermutlich deshalb eingesetzt, weil es leichter zu tragen war als der Kontrabass. Verständlicherweise, denn die Musikanten mussten oft lange Strecken zu Fuss zurücklegen. Besonders originelle Anfertigungen solcher Bassette zeigen die Fotos aus dem Safiental. Auch auf Bildern aus dem Appenzell vor 1900 ist das Violoncello zuerst als Bassinstrument (oder ev. Bass und Nachschlag) zu sehen. Später, in Kombination mit dem Kontrabass, übernahm es dann in erster Linie die Funktion des Nachschlags oder einer Begleitstimme.

Mit unserem Duo versuchen wir der urtümlichen Spielpraxis auf diesen Feldaufnahmen nachzuspüren. Und mit unseren Arrangements möchten wir diese Musik in eine aktuelle Form bringen. Beim Entwickeln und Erforschen unseres Repertoires, eine Arbeit, die etwa ein Jahr in Anspruch nahm, war es uns ein besonderes Anliegen den Schweizer „Ton“ zu suchen. D.h. nicht einfach Spielweisen anderer Fiedeltraditionen auf unsere Musik zu stülpen, sondern von den Feldaufnahmen ausgehend, den Stücken eine ganz eigene helvetische und alpenländische Note zu geben. Um die Farbpalette noch zu erweitern, spielen wir einige Stücke auf Darmsaiten und in alter Stimmung (Kammerton A 415 Hz).

In unserem Programm sind viele Tanzmelodien zu hören, die wir für wahre „Meisterwerke“ halten. Und genauso fasziniert sind wir auch von den Muotathaler «Jüüzli». Wir versuchen diese so original wie möglich zu spielen; eine Originalität, die heute von vielen Menschen als vollkommen exotisch empfunden wird. Die besondere Mehrstimmigkeit dieser normalerweise gesungenen Naturjodel, sowie das Intonieren auf der Naturskala machen diese Musik zu einem klingenden «Naturwunder», über dessen phantasievolle Variationen-Vielfalt man nur staunen kann.

Wir hoffen, mit unserem Projekt dazu beizutragen, dass die Fiedel in der Schweizer Volksmusik wieder einen gebührenden Platz bekommt und dass der helvetische Himmel bald wieder voller Geigen hängt.

Andreas Gabriel & Fabian Müller

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